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Ein shetländischer Therapeut für alle Fälle

«When you try your best but you don’t succeed, when you get what you want but not what you need, when you feel so tired but you can’t sleep, stuck in reverse. 

And the tears come streaming down your face, when you lose something you can’t replace, when you love someone but it goes to waste, could it be worse?” 

 

Ich sass im Auto und der Song von Coldplay lief in voller Lautstärke. Tränen rollten über meine Wangen. Mein Sohn war bereits wieder seit vier Tagen im Spital, das dritte Mal in den letzten zwei Monaten. Es zerrte an der ganzen Familie, diese Ungewissheit, die Sorgen und die Anspannung. All die unruhigen Nächte im Spital und das Gefühl ein bisschen wie im Gefängnis zu leben. Ein goldener Käfig war es zwar, aber eben doch keine Freiheit. Dank liebevoller Unterstützung meiner gesamten Familie hatte ich nun ein paar Stunden nur für mich. Zeit, die ich natürlich im Stall verbringen wollte. 

 

Also wischte ich mir die letzten Tränen von den Wangen und stieg aus dem Auto. Es ist jedes Mal magisch was bereits die Umgebung und die Stallluft in mir auslöst. Sofort hatte mich Winnie erblickt, kam herbei und brummelte freudig. Nur wenige Minuten in seiner Nähe und ich hatte bereits wieder ein Lächeln im Gesicht. Wie hatte ich den kleinen Ponymann vermisst. Ich holte ihn aus dem Stall und begann ihn gründlich zu putzen. Sofort war ich im Hier und Jetzt, strich durch sein weiches Fell und fühlte seine Wärme. Die trüben Gedanken waren wie weggeblasen. 

 

Ich beschloss einen Spaziergang zu unternehmen und wir liefen zusammen los. Es lag noch ein wenig Schnee und wir hatten sogar das Glück, dass sich die Sonne zeigte. Winnie war von meiner Idee zunächst gar nicht so begeistert. Da ich die letzten Tage im Spital verbracht hatte, war er etwas träge geworden. Das ist aber auch das Schöne an Winnie. Er geniesst seine freien Tage im Offenstall und ist nach einer Pause genauso gelassen wie vorher. Im Gegenteil, meistens muss er eher wieder motiviert werden, denn ihm würde es genügen seine Zeit mit Essen und Schlafen zu verbringen. 

 

Schon bald war Winnie motivierter und auch meine Stimmung besserte sich Schritt für Schritt. Der Schnee unter uns knirschte herrlich. Ich liebe den Klang von Winnies Hufe beim Gehen und könnte dieser beruhigenden Musik stundenlang lauschen. 

Im Wald stiegen wir über ein paar am Boden liegende Äste. Dies fördert die Konzentration von Winnie und animiert ihn seine Beine mehr zu heben. Schliesslich trabten wir an. Ich joggte neben Winnie her und wir beide genossen die kalte Winterluft in unseren Lungen. Winnie schnaubte zufrieden ab und ich fühlte mich das erste Mal seit Tagen wieder lebendig und frei. 

 

Nun wanderten wir einen schmalen Trampelpfad entlang. Auch hier war die Aufmerksamkeit meines Ponys gefragt. Wir stiegen über Wurzeln und die ein oder andere Stolperfalle war mit Schnee bedeckt. So mussten wir beide unsere Tritte sorgfältig wählen. Danach ging es ein Stück steil bergauf. Ich motivierte Winnie dazu zügig zu laufen, mit den Hinterbeinen unter seinen Bauch zutreten und den Rücken zu heben, so dass all die wichtigen Muskeln gebraucht werden.

 

Oben angekommen trabten wir noch einmal ein langes Stück. Wir beide waren nun richtig zufrieden. Winnie schüttelte freudig seinen Kopf und lief zügig neben mir her. Auf meinem Gesicht hatte sich ein grosses Grinsen breit gemacht. 

Und in diesem Moment durchströmte mich plötzlich eine tiefe Dankbarkeit. Für diesen Moment, diesen Spaziergang und mein Pony. Aber auch eine Freude über mein Leben und meine Kinder. Wie viele Frauen und Männer gab es, die sich sehnlichst ein Kind wünschten, aber nie eines bekommen können? Wie viele Eltern gab es, die ihr Kind wieder verloren hatten? Und wie viele Eltern gab es, deren Kindern mit viel Schlimmeren Schicksalen und Krankheiten zu kämpfen hatten als ich? 

 

Ich fühlte eine grosse Dankbarkeit und spürte eine tiefe Gewissheit, dass wir auch diesen Spitalaufenthalt hinter uns bringen würden und danach alle stärker sein würden als je zuvor. 

 

Mit diesem Gefühl spazierte ich mit Winnie zurück zum Stall. Beim Gedanken mit welcher Mutlosigkeit ich noch vor ein paar Stunden hier angekommen war musste ich lächeln. Winnie sollte Therapeut werden. Er schaffte es jedes einzelne Mal mich wieder positiv zu stimmen und mich zu heilen. 

 

Ich stieg in mein Auto und fuhr zu den Klängen von Flo Ridas «Good Feeling» zurück ins Spital. Danke Winnie! You raise me up to more than I can be! Jedes einzelne Mal. 

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